Sieda kriegt Unterstützung: der erste Mann im Team...

 

Und plötzlich war er erreicht, dieser Punkt. Die heilige Schwelle zum knappen Wahnsinn. Vor welcher alles noch irgendwie machbar war. Mit Nachtschichten, Energieschüben, gegenseitigem Antreiben, immer dreidingeaufsmalerledigen und irgendwelchen superkräftigenden Hormonausschüttungen gelang es uns über Monate, unsere Köpfe über Wasser zu halten und alles immer wieder doch noch zu managen.  Aber dann... eben. Die Schwelle. Immer noch mehr – so tolle – Kundinnen wollten Produkte von uns. Alle mit Wünschen, Ansprüchen, grossen Einkaufstaschen.  Wir freuten uns riesig und gossen stetig mehr Beton, bemalten noch mehr Produkte, spannten dazu auch unsere Malerinnen und anpackende StudentInnen immer mehr ein,  hegten und pflegten das Lädeli, die Homepage, die Facebookseite, die Buchhaltung, alle Bestellungen, Anfragen, unsere so geliebten Kundinnen und spürten plötzlich, dass das alles in diesem Umfang nicht mehr zu bewältigen war. Wir begannen, zunehmend schlechter zu schlafen, kriegten Rückenprobleme und Versagensängste.  Waren nur noch zu Verkaufszeiten richtig zufrieden und dazwischen einfach nur noch gehetzt und schampar unter Druck. Unsere Ansprüche an uns waren und blieben hoch. Zu hoch. Und plötzlich gab es nur noch zwei Lösungen: Aufhören, Sieda aufgeben oder aber: Hilfe suchen und finden. Mit unserem Budget zahlbare, unkomplizierte Hilfe musste es sein. Ob es so was überhaupt gab?   

Und DANN begann das Märchen.  Nach einer ersten Kontaktaufnahme wurden wir nicht nur in die Justizvollzugsanstalt (Gefängnis) Lenzburg zu einem Orientierungsgespräch eingeladen, nein, im Anschluss besuchte uns ein Abteilungschef, kniete sich auf die Gartenplatten und liess sich das Betonieren ganz genau zeigen, entsetzte sich über unsere Zustände und hatte bei der Heimfahrt bereits Material im Auto und tolle Ideen im Kopf.  Es sei machbar, meinte er einige Tage später motiviert am Telefon. Die JVA könne für Sieda produzieren (giessen und schleifen). Offerten, Telefonate, Emails, Bestellbogen und Materiallieferungen gingen hin- und her. Endlich mussten wir nicht mehr einzelne Betonsäcke schleppen, nein – wir konnten ganze Paletten unseres Materials in die JVA liefern lassen. Der geeignete Mitarbeiter (Gefangene) wurde gefunden und eingearbeitet. Plötzlich wurde uns klar, dass Betonieren doch nicht nur einfach Betonieren ist. Dass es von ganz kleinen Details abhängen kann, ob gegossene Produkte nach unserem Sieda aussahen oder zu grob oder zu unregelmässig wurden. Der Werkstattchef (welchem wir so viel zu verdanken haben) gab nicht auf, liess sich immer wieder neue Details erklären und analysierte mit uns bei so vielen Anrufen und vor Ort, verlor nie die Geduld mit uns und wurde belohnt: Mr.x. der für uns arbeitende Gefangene, machte plötzlich riesige Fortschritte. Und hatte Freude an seiner Arbeit! Alle unsere Silikonformen reisten nun nach Lenzburg. Pigmente. Öl. Seidenpapier. Und heute, drei Monate später, arbeitet Mr.x  seit einigen Wochen täglich sehr selbstständig für uns. Er giesst zwei mal wöchentlich eine grosse Menge Beton und tagtäglich viiiiiiiel Zement, schleift alle Siedalinge genauer als wir es je taten und mauserte sich zu einem motivierten Giess-Profi.  Er bearbeitet unsere Auftragslisten sehr genau und speditiv.  So richtig zum daran Freude haben! Alle zwei Wochen fahren wir durch all die Zäune, Tore und Schleusen, füllen in der JVA unseren Van bis unters Dach mit Kisten voller Betonprodukte, welche darauf warten, bepinselt zu werden.  Es tut gut, ab und zu einen zufriedenen Ausdruck und das Gefühl, für etwas so sinnvolles eingesetzt zu werden,  auf Mr.x Gesicht zu sehen.

Zuhause wird das Material aus den Kisten auf alle Malerinnen verteilt und der Malwahnsinn geht weiter. Und das war ja logisch: natürlich arbeiten wir jetzt nicht weniger. Die Lücken haben sich sofort gefüllt: wir haben nun mehr Siedalinge und damit mehr Material zum auspacken, einräumen, verteilen, bemalen. Aber malen ist genau das, was wir am liebsten tun. Wir betonieren auch immer noch sehr gerne und immer mal wieder, sind jedoch unendlich dankbar, nicht mehr jeden Abend Formen füllen und jede Woche hundert Kilogramm Beton giessen zu müssen. 

Wir sind der JVA und dem Werkstattchef unendlich dankbar, dass sie den Mut hatten zu diesem Projekt. Es entstand daraus eine für beide Seiten sehr zufriedenstellende Zusammenarbeit. Und Sieda lebt weiter!

 

Keine kaputten Körper, keine Gehhilfen, keine Reha – Sieda bleibt fit und lebendig J.

Tausend Dank an das liebevoll persönliche und aufgeweckte Team und sein modernes Wettingen Geschäft "www.hilsmittelwelt.ch" für das Ausleihen der Gehhilfen! Das Fotografieren war ein lustiges Vergnügen :-). Und ganz bitzli peinlich.